In Japan stösst man oft auf kleine Balletstudios. Aus meiner Sicht häufiger, als in Europa. Ihre Aufmachung und Namen wirken oft nach Frankreich-Kitsch. Gemäss einer Arbeit von Sayako Ono der Tokyo University zum Thema, steht Ballet für eine art westliche Traumwelt, in der weniger gesellschaftlicher Druck auf dem Rollenbild der Frau lastet, wie das in Japan der Fall ist.
Der Ursprung des Ballet-Booms startete ungefähr 1955 bis 1975 . In diese Zeit entwickelte sich in Japan eine Mittelklasse, die sich zunehmend Luxusartikel leisten konnte. Während dieser Zeit waren Balletstunden sehr teuer und deshalb nur für die Oberschicht erschwinglich. Für viele zu dieser Zeit in Japan heranwachsende Frauen war Bellerina ein fast unerreichbares Ziel und eine Art Traumberuf. Ein Grund für dieses Image war auch, dass Ballet in Massenmedien als beliebtes Motiv für Cover-Fotos und 1972 in einem Japanischen «Dorama» – eine Art japanischer Soap Opera – angepriesen wurde.
Viele in dieser Zeit aufgewachsene Frauen wurden von diesen Idealen beeinflusst. Sayako Ono sieht Indizien dafür, dass diese Frauen ihren Kinder das ermöglichen wollten, was für sie ausserhalb des Möglichen lag. Viele Frauen dieser Generation gehen gleich selber in Balletstunden, um das vermeintlich verpasste nachzuholen. Für sie bedeutet Ballet einen sozialen Status, der in jungen Jahren ein schier unerreichbares Ideal war.
Für Frauen im Alter von 40 aufwärts ist es einerseits eine Form der Selbstverwirklichung in einer Umgebung, in der sich viele Freuen voll und ganz ihrer Familie hingeben. Es ist ein Ausbruch aus der klassischen Rolle für eine kurze Zeit. Zudem ist für viele Frauen in Japan der Westen eine art Traumwelt, in welcher der gesellschaftliche Druck auf das klassische Rollenbild der Frau weniger stark ist als in Japan.
Ballet ist eine kleine Insel, im Meer der alleinigen Verantwortung für Haushalt und Kinder, auf der die ansonsten für Frauen gesellschaftlich verpönte Sehnsucht nach eigenwilligem und ich-zentriertem Handeln ausgelebt werden kann.
Spannend. Und wenn Du noch nie in Japan warst – es gibt dort noch ganz viel andere spannende, schöne, überraschende, verblüffende, lustige, erstaunliche, schelle und unglaublich gut organisierte Dinge. Eine Reise lohnt sich.
Foto von Nihal Demirci Erenay auf Unsplash